Der SEagent

Schulentwicklung – Bildung – Organisation

Kultur des Teilens


Schule und Die Kunst des (Mit-)Teilens

-zur Kultur der Digitalität- 

Problemstellung: Das Leben in der Kultur der Digitalität fordert von jedem, das Erlernen neuer Kulturtechniken. Der Zugang zu Kultur ist langfristig von der Bereitschaft abhängig, sich auf neue Kulturtechniken einzulassen. Dabei kommt es häufig zu den üblichen Abwehrreaktionen, wie sie Kathrin Passig und Axel Krommer beschrieben haben. Bereits die irreführende landläufige Rede von “Digitalisierung” deckt in ihrer Ungenauigkeit auf, dass das eigentliche Problem noch nicht im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist. Die Entdeckung, dass die digitale Transformation auch ein kulturelles Phänomen ist, ist dabei in informierten Kreisen nahezu selbstverständlich, kann sich aber in der Breite nicht durchsetzen. 

Im folgenden möchte ich eine Perspektive auf die Beschaffenheit dieser Kultur der Digitalität eröffnen und mit Hilfe dieser Perspektive Fragen aufzeigen, die sich für alle schulischen Bereiche stellen.

These:  Die Kultur der Digitalität ist eine des Teilens und eine des Mitteilens. Dabei sind Teilen und Mitteilen keineswegs einfache Vorgänge, sondern Kulturtechniken mit Einstiegsvoraussetzungen, die gelernt und eingeübt werden, die man besser und die man schlechter beherrschen kann. Es handelt sich bei ihr um einen kulturellen, einen sozialen und einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, dessen Auswirkungen auf Gesellschaft und Schule vielfältig sind, da die Voraussetzungen für Teilen und Mitteilen als Kulturtechniken alle Lebensbereiche ubiquitär durchwirken. 

Die Kultur der Digitalität als Kultur des Teilens und des Mitteilens- Von Twitter bis TikTok

Es gibt kein soziales Netzwerk ohne einen “teilen”- oder “share”-Button. Dabei werden in formalen Umgebungen andere Dinge geteilt als in informellen. Der Klassenchat funktioniert anders wie die Familiengruppe oder das Firmennetzwerk. Öffentlich teilt man andere Dinge als privat und all das ist verbunden mit verschiedenen Identitäten. Egal was geteilt wird, der Teilende geht dabei davon aus, dass es sich bei der Botschaft für sein Publikum um eine nützliche und neue Information handelt. Besonders augenscheinlich ist das bei TikTok und Youtube. Eine Vielzahl der Channels und der Videos behandelt  LiveHacks, HowTos und Tests. Das Publikum hat wiederum selbst beschlossen, dass es Publikum sein will.

Von der Arbeitsteilung zum Teilen der Arbeit

Die funktionale Ausdifferenzierung der Arbeit hat zu einer Verbreiterung des Spezialistentums geführt. Weil es nicht sinnvoll ist, dass jeder alles lernt, bezahlen wir Spezialisten, damit sie spezielle Tätigkeiten verrichten. Für Unternehmen war es reizvoll, Spezialisten zu horten, weil sie damit deren Spezialwissen horten und so Marktvorteile generieren konnten, die sich ausbezahlten. Dieses Wissen galt es als geistiges Eigentum natürlich auch zu beschützen, um den Marktvorteil zu erhalten. Das alles war in einer Welt von Geltung, in der Wissen etwas Statisches war; in einer Welt, in der sich das Wissen erst dann änderte, wenn der Brockhaus mal den Band aktualisierte, in dem das spezielle Wissen festgehalten wurde. Durch Maschinisierung, Computerisierung und autonome Systeme hat sich die Halbwertszeit von Wissen inzwischen drastisch verkürzt. Schöne Beispiele dafür finden sich bei Hans Rosling et al. Dadurch verändert sich auch der Stellenwert von Wissen. 

Paradigmenwechsel der Nützlichkeit von Wissen

Aber nicht nur dadurch: Arbeit als Ergebnis gemeinschaftlichen Austauschs zu Themen in interdisziplinären Teams (kurz: arbeiten) wertet Wissen wieder auf – vielmehr aber die Verfügbarkeit von Wissen. Mein Team soll mich verstehen und das Wissen zur Verfügung haben, das es braucht, um das Problem mit mir zu lösen. Wenn die Arbeit nicht mehr von Spezialisten gemacht wird, sondern von interdisziplinären Teams, dann liegt der Marktvorteil eben nicht mehr in dem gehorteten Expertenwissen, sondern in der Fähigkeit des Teams Expertenwissen zu aggregieren und vor allem darin es anzuwenden. Die Nützlichkeit von Wissen wird also nicht mehr in seiner Ansammlung, sondern in der Verfügbarkeit des Wissens, sowie in der pragmatischen Umsetzung dessen verortet.

Von Creative Commons bis OER

Das schlägt sich auch in dem Bedürfnis wieder, geistiges Eigentum anders lizenzieren zu können wie durch das klassische Copyright. Immer dann, wenn es darum geht sich in einer Gemeinschaft Arbeit zu teilen, wenn man vielleicht noch nicht mal genau weiß, wer mit den eigenen Arbeitsergebnissen zukünftig etwas anfangen kann, dann möchte man nicht, dass diejenigen sich aus Sorge um Copyright Verwicklungen nicht auf die eigenen Arbeitsergebnisse stützen. In der Kultur der Digitalität gibt es unzählige kulturelle Produkte, die letztlich aus Bestehendem etwas neu zusammenstellen. Die Rede ist von einer Remixkultur, die besonders auch bei Memes eine Rolle spielt. Ein Meme, für das jeder, der es nutzt, nachfragen muss, ob er das darf, bzw. für das jeder zahlen muss, ist undenkbar. Auswege bieten die Lizenzen der Creative Commons (CC-Lizenzen), bei denen jeder selbst festlegen darf, wie das eigene Arbeitsprodukt weiter genutzt werden darf. Im Lehrbereich seien hier Open Educational Resources (OER) genannt, eine Methode, um die eigenen Unterrichtsentwürfe für jede* nutzbar zu machen. Die Veränderung des Wissensbegriffs wird hier besonders deutlich, da der Nutzen des gemeinschaftlichen Herstellens und des Teilens von Lernmaterialien selbstevident ist. Ähnliche Evidenzen gab und gibt es in der Informatik im Bereich Shareware und Open Source.

Teilen und Mitteilen als Einstiegsvoraussetzung in den Diskurs der Kultur der Digitalität

Meine These beinhaltet, das Teilen und Mitteilen nicht trivial, sondern voraussetzungsreich sind. Diese Voraussetzungen stellen Gewohnheiten und Überzeugungen in Frage, die vielfältige Abwehrhaltungen auslösen – von reinem Konservatismus, über empfindsame Reaktionen, weil man die eigene Professionalität in Frage gestellt sieht, bis hin zu gut gemeinten Palliativtechniken.

Wenn ich mich erfolgreich mitteilen will, wenn ich erfolgreich etwas teilen möchte, dann funktioniert das nicht, wenn ich mich über andere stelle, wenn ich den anderen nicht ernst nehme, wenn ich von einem Standpunkt der Autorität aus argumentiere, wenn ich nicht offen bin, wenn ich gewaltsam versuche, meine Argumentation aufzuzwingen, wenn ich eine Rolle spiele, wenn ich Professionalität simuliere, wenn ich nicht darauf achte, was die anderen brauchen, wenn ich nicht darauf achte, wie sich andere fühlen, wenn ich ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung ignoriere. Kurz, es funktioniert nicht, wenn ich die zentralen Kennzeichen der Kultur der Digitalität ignoriere. Stalder beschreibt als Kennzeichen der Kultur der Digitalität Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität. Für das Teilen und das Mitteilen geht es hier hauptsächlich um den Punkt der Gemeinschaftlichkeit. Wenn ich mich erfolgreich mitteilen möchte, dann muss ich etwas sagen, das tatsächlich für die anderen auch interessant ist, das gemeinsam interessant ist. Etwas das anschlussfähig ist und ein kokreatives Weiterführen des Gedankens ermöglicht. Dabei ist auch die Position, von der aus ich etwas sage, relevant. Ich muss mir Vertrauen erarbeiten, darf dieses nicht verspielen und muss zu jedem Zeitpunkt authentisch sein. Das heißt, dass das Einnehmen einer Rolle immer selbst zum Problem wird. Das heißt auch, sorgsam mit der Aufmerksamkeit des anderen umzugehen; Mit anderen Worten, dessen Zeit nicht zu verschwenden, mit für ihn irrelevanten Inhalten.

Das heißt, Schule kann letztlich nicht einfach Inhalte in Schüler*innen füllen und dann prüfen, nein, sie hat selbst eine Bringschuld. Dieser wird sie nur gerecht, wenn sie der Intentionalität der Schüler*innen gerecht wird (ich nenne das gerne „Learner Agency“.

(Für die Systemtheoretiker*innen möchte ich die These wagen, dass das Medium des Systems Schule jetzt Aufmerksamkeit ist (und zwar die des Anderen), und sein Code interessant/uninteressant. Vor diesem Hintergrund stellt sich dann die Unausweichlichkeit der Berücksichtigung der Intentionalität der beteiligten Schüler*innen dar. Wenn ich den Code interessant/uninteressant nicht berücksichtige, dann treffen Inhalte des Unterrichts und Absichten der Schüler*innen eben nur zufällig aufeinander.)

Anders gesagt. Die Schüler*in muss als ein intentionales Wesen auf Augenhöhe am System Schule partizipieren können.

Vom “Du musst” zum “Du kannst”

Stalder beschreibt in “Die Kultur der Digitalität” die “Macht der Soziabilität”. Im Unterschied zur “Macht der Souveränität” sei ihr Diktum “Du kannst!” statt “Du musst!”. Auf dem Weg dahin befindet sich die Schule, wenn sie im Zeitalter der Digitalität eine Bedeutung haben möchte, denn 

“[j]e mehr Akteure bestimmte Protokolle und Standards akzeptieren, desto mächtiger werden diese, desto umfassender die Soziabilität, die sie strukturieren, und desto dringlicher stellt sich für alle anderen die Frage, ob sie die Protokolle und Standards nicht auch übernehmen sollten. […] Protokolle üben Macht aus, ohne dass ein Akteur vorhanden sein muss, der die Macht innehat.”

Und dieses Protokoll des “Du kannst!” ist das, was in der Lebenswelt immer wirkmächtiger ist. Das heißt, dass Schüler*innen zunehmend irritiert sein werden, wenn sie vor einem “Du musst!” stehen. Schule läuft damit Gefahr aus der Aufmerksamkeit der Schüler*innen zu verschwinden.

Für die Schulgestaltung heißt das, dass ich beachten muss, was für Interessen die Schüler*innen haben, dass ich Beziehungsarbeit leisten muss, dass der Unterricht auch ein Raum ist, in dem Emotionen ihren Platz bekommen, dass das Unterrichtsgeschehen Bedeutung für die Schüler*innen und ihre Lebenswelten hat und dass es Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bietet.

Daraus folgen drei zentrale Voraussetzungen für die Kunst des Teilens und die Kunst des Mitteilens:

  1. Augenhöhe: Ich muss die Persönlichkeit des anderen voraussetzen, ihr wertschätzend begegnen und ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung würdigen und ihr Raum einräumen. 
  1. Transparenz: Ich muss selbst transparent sein und mich integer verhalten.
  1. Offenheit: Ich muss bereit sein, Impulse anzunehmen.

Wenn Schule sich mitteilen möchte, und nichts anderes passiert im Unterricht eigentlich, dann muss Sie künftig diese Prinzipien achten.

Fragestellungen für die Schule

Daraus ergibt sich ein riesiger Berg an Fragestellungen für die Schule und zwar in allen ihren Bereichen:

  • Welche Konsequenzen ergeben sich didaktisch? Wie sieht der Anteil an der Unterrichtsgestaltung der Schüler*in aus?

In diesem Bereich gibt es vielfältige Modelle und Überlegungen. Ausgehend von den Global Goals und den 21st Century Skills erfahren sowohl 4K als auch das Modell des Deeper Learnings von Anne Sliwka große Aufmerksamkeit, auch Agile Unterrichtsmodelle (Scrum, Design Thinking) und Lernen durch Lehren ist hier anschlussfähig.

  • Welches Bild einer Schüler*in setzen wir voraus? Welches Bild einer Lehrer*in setzen wir voraus? Welchen Begriff von „Wissen“ setzen wir voraus? Und welchen von „Lernen“?
  • Wie sollte eine schulische Bewertung aussehen? Quantitativ? Qualitativ? Geht es vielleicht mehr um die Selbsteinschätzung der Schüler*innen als um Noten? Braucht es überhaupt eine Bewertung, oder lässt sich mit Philippe Wampfler sagen, “dass wirksame Lernprojekte, motivierende Lernsettings und Zusammenarbeit durch eine Kultur des Prüfens und Bewertens verunmöglicht werden”

Zu dieser Thematik hat sich das Institut für zeitgemäße Prüfungskultur gebildet. Hier werden alternative Ansätze zur Leistungserhebung multipliziert.

  • Wie muss Unterricht organisiert sein, damit er in der Kultur der Digitalität den Schüler*innen gerecht wird? Brauchen wir Klassen in ihrer heutigen Form? Brauchen wir Fächer in ihrer heutigen Form? Wie wichtig ist eigentlich das Arbeiten in Projektteams?
  • Wie muss Schule organisiert sein, damit sie in der Kultur der Digitalität ihren Aufgaben gerecht wird?
  • Wie muss Schule architektonisch organisiert sein? Muss sie an ein Gebäude gebunden sein?
  • Wie kann der Widerspruch zwischen der Berücksichtigung der Intentionalität der* Schüler*in und Bildungsplänen aufgelöst werden?
  • Welche rechtlichen und formalen Vorgaben müssen sich in den Bundesländern ändern? Welche Schulaufsichtsbehörden brauchen wir noch und wie müssen diese organisiert sein? 

Und den müssen wir auch abarbeiten. Wir sind es den Schüler*innen schuldig.

Further Reading:


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert