„Die jungen Leute können ja gar nicht mehr schreiben. Nur auf der Mattscheibe rumwischen, das können sie.“
Sätze dieser Art kommen immer wieder in Diskussionen vor, wenn es darum geht, ob Schüler*innen Tablets im Unterricht benutzen sollen dürfen. Dabei wird in dem Satz der Hiatus zwischen dem Guten, Alten und Erprobten und dem Neuen, Schlechten und Ungewissen eindrücklich betont. Ich vermute, dass diese, häufig unüberlegten, Vorurteile letztlich in einer Technikvergessenheit begründet sind. Das, was der Mensch in seiner Welt vorfindet, erlebt er zunächst als unproblematisch. Es muss nicht hinterfragt werden. So gab es in meiner Kindheit und Jugend eben Stifte und Papier und damit konnte man eben schreiben, malen und zeichnen und das haben wir eben alle gelernt. Alles was wir lernen, sind allerdings auch Techniken. Im Falle von Lesen und Schreiben sogar Kulturtechniken. Wenn es um die Einführung von Tablets an Schulen geht, dann wird häufig ein Primat der Handschrift gegenüber dem Keyboard oder Smartphone-Keyboard behauptet. In etwa so: „Erst müssen die Schüler*innen die Handschrift beherrschen, davor brauchen sie das Keyboard nicht benutzen.“ Oder gar: „Das ständige Benutzen von Keyboards verhindert die Entwicklung der Handschrift“. An der Stelle sei der Hinweis erlaubt, dass auch bei der Einführung von Heften im Schulwesen entsprechende Argumentationen zu finden waren. Dennoch fehlt uns heute nichts, wenn wir nicht wissen, wie man mit einem Griffel schreibt.
Alles, was wir tun, ist technisch geprägt ist, wenn wir es erlernen. Wenn es eine Technik ist, dann wird diese sich über die Zeit hinweg verändern. Und nicht nur die Handschrift, auch die Schule ist eine solche Technik. Augenfällige Veränderungen sind:
- keine Prügelstrafe mehr
- kein militärischer Drill mehr
Technikfolgenabschätzung
Wo es Technik gibt, da gibt es Technikfolgenabschätzung. Ohne in die Tiefe zu gehen, einige Beobachtungen und Analysen, die unstrittig sein dürften:
- Das größte Potenzial von Schule realisiert sich dann, wenn Schüler*innen sie erfolgreich absolvieren.
- Das größte Risiko von Schule realisiert sich dann, wenn Schüler*innen sie nicht erfolgreich absolvieren.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich nun ein Imperativ: „Sorge dafür, dass so viele Schüler*innen wie möglich die Schule erfolgreich absolvieren.“ Üblicherweise wird an dieser Stelle eingeworfen, dass manche halt nicht alles können. Und dementsprechend müssten halt ein paar durchfallen.
Schauen wir uns mal an, was die Gründe dafür sind, dass Schüler*innen nicht reüssieren. Das hat aus Schulsicht in der Regel zwei mögliche Ursachen:
- Schüler*in fehlt zu häufig
- Schüler*in hat schlechte Noten
Anders tauchen Schüler*innen im Schulsystem nicht auf. Schule besteht, wie jedes System aus Kommunikation. Und Kommunikation über Schüler*innen gibt es im Regelfall nur dann, wenn sie zu häufig fehlen oder zu schlechte Noten haben. (Andere Störfälle wie Gewalt oder Einträge wegen Beleidigungen, etc. mal ausgeschlossen. Und wenn Lehrer*innen sich in der Pause über Schüler*innen unterhalten, ist das keine Kommunikation des schulischen Systems.)
Warum ist das so? Warum fehlen die Schüler*innen, die fehlen, häufig? Warum haben die Schüler*innen, die schlechte Noten haben, schlechte Noten?
Warum fehlen die Schüler*innen, die fehlen, häufig?
Es gibt sehr viele Gründe, aus denen Schüler*innen der Schule fernbleiben und es lohnt sich zunächst zu unterscheiden zwischen Gründen, die im Einflussbereich der Schule liegen, und Gründen, die eben nicht im Einflussbereich der Schule liegen:
- das aversive Schulschwänzen,
- die angstinduzierte Schulverweigerung und
- das Zurückhalten durch Erziehungsberechtigte.
- Krankheit
Die ersten beiden liegen im Einflussbereich der Schule. Aversives Schulschwänzen ist offensichtlich nur dann eine Option, wenn die Schule nicht interessant ist. Angstinduzierte Schulverweigerung ist immer dann im Einflußbereich der Schule, wenn sie ihr Schulklima aus den Augen verloren hat. Es ergeben sich also hier zwei Imperative:
- Sorge dafür, dass die Schule interessant ist!
- Sorge dafür, dass die Schule ein angstfreier Ort ist!
Das „Zurückhalten der Kinder durch Erziehungsberechtigte“ und Krankheit liegen nicht im Einflussbereich der Schule, also lassen wir diese beiden Punkte außen vor. Wie kann man aber beiden Imperativen gerecht werden?
Die Schule als interessanter Ort (1)
Man kann Schule durch projektorientierten Unterricht und andere Methoden sehr viel interessanter gestalten, als das heute häufig der Fall ist. Das zentrale Element interessanter Schule ist Learner Agency; die Möglichkeit, dass Schüler*innen selbstgesteuerte Selbstwirksamkeitserfahrungen machen. Dieses Element stößt immer dort an Grenzen, wo es auf Lehrpläne trifft. Denn Lehrpläne schränken die Selbststeuerung ein, indem sie festlegen, was wann gelernt werden muss. Lehrpläne sind die Hauptursache für uninspirierten Frontalunterricht nach Schema F. Dem ausgesetzt zu sein, kann für Kinder und Jugendliche frustrierend sein. Insbesondere dann, wenn sie gerade dabei sind, zu entdecken, wer sie selbst sind. Schule wird also durch ihre innere Logik uninteressant.
Es lohnt sich nicht nur die Frage zu stellen, ob wir tatsächlich festlegen müssen, wer was wann lernt. Wir sind eigentlich dazu verpflichtet, sie zu stellen. Denn das Paradigma der Digitalität bietet Möglichkeiten, diese Vorstellung hinter uns zu lassen.
Die Schule als angstfreier Ort (1)
Ähnlich stellt sich die Situation dar, wenn wir über die Schule als angstfreien Ort nachdenken. Es gibt eine ganze Reihe erprobter Mittel, die dafür sorgen können, dass man Schulhofrowdies in ihre Schranken weist, und die für ein angstfreies Schulklima sorgen können. Doch auch hier stößt man an Grenzen. Die klassische Matheschüler*in, die irgendwann anfängt die Schule zu schwänzen, weil sie meint, dass sie ja eh schlecht in Mathe ist und das auch immer sein wird, erreichen wir mit diesen erprobten Mitteln kaum. Auch das Leistungsprinzip, Noten und die begleitenden Phänomene im Sportunterricht können das gleiche Ergebnis haben.
Die innere Logik der Schule, der gegenwärtige Stand ihrer Technizität, führt strukturell dazu, dass Schüler*innen die Schule nicht erfolgreich abschließen.
Nähmen wir den Imperativ: „Sorge dafür, dass so viele Schüler*innen wie möglich die Schule erfolgreich absolvieren.“ ernst, dann müssten wir das kulturtechnische Artefakt Schule neu designen. Und ein Design Prinzip möchte ich hier vorschlagen:
Agency by Design
Analog zu „Privacy by Design“ im IT-Sicherheitsbereich sollten wir im Schulbereich das Prinzip „Agency by Design“ implementieren. „Privacy by Design“ heißt im Grunde nichts weiter, als dass schon im Vorfeld der Programmierung von Software darauf geachtet wird, dass Privacy-Lücken gar nicht erst entstehen können. So speichert Beispielsweise die Corona-Warn App private Daten lediglich auf dem Smartphone, auf dem sie installiert wurde. Und sie legt eben nicht eine große Liste auf einem zentralen Server ab, die unter Umständen in Hackerhand landet, wie das bspw. die Luca- App gemacht hat. Was ist also Agency by Design? Wie kann für das Feld Schule schon im Vorfeld der Organisation von Schulleben darauf geachtet werden, das Agency-Lücken gar nicht erst entstehen können?
Die zwei deutlichsten Angriffspunkte habe ich oben bereits behandelt:
Schule als interessanter Ort (2)
Wenn Learner Agency zum zentralen Element von Schulen wird, ist Schule ein interessanter Ort. Schüler*innen erforschen in ihren selbstgewählten Projekten ihre Interessen und sich selbst. Aversives Schulschwänzen wird so verunmöglicht. Wir würden also dem Imperativ: „Sorge dafür, dass die Schule interessant ist!“ gerecht. Agency By Design hätte also eine Neufassung der Lehrpläne zur Folge.
Schule als angstfreier Ort (2)
Learner Agency bedeutet auch, dass Lernende qualitativ ihre eigene Lernentwicklung für sich bewerten. Herkömmliche Benotung täuscht eine Vergleichbarkeit vor, die nicht gegeben ist. Die eigene qualitative Bewertung der Lernentwicklung führt nicht zu vergleichendem Verhalten. Schließlich sind die Lernprojekte, wenn Learner Agency ihr Kernelement ist, individuell und grundverschieden voneinander. Wir würden also auch dem Imperativ „Sorge dafür, dass die Schule ein angstfreier Ort ist!“ gerecht.
Kommunikation
Um das Ganze noch systemtheoretisch abzuschließen: „Agency by design“ beschreibt einen grundlegenden Eingriff in das Schulsystem. Schüler*innen kommen in der Schulkommunikation nicht mehr nur dann vor, wenn sie zu häufig fehlen oder zu schlechte Noten haben. Im ersten Fall muss natürlich weiter darüber geredet werden, der zweite kann m.E. mitsamt den herkömmlichen Noten wegfallen (#notenade). Entscheidend ist aber folgende Verschiebung: Der kommunikative Schullalltag besteht dann strukturell aus Kommunikation über den Stand der Lernentwicklung von Schüler*innen. In den Konferenzen der Schule sollte es also nicht mehr darum gehen, wer bestanden hat und wer nicht. Hier soll die Schüler*in und ihre Entwicklung auftauchen. Wo war sie, wo ist ist sie jetzt und ist ein Fortschritt feststellbar. Und falls dieser nicht feststellbar sein sollte, dann muss überlegt werden, welches Lernangebot dieser Schüler*in vielleicht weiterhelfen kann und wie es gestaltet werden soll. Die Aufgabe, wenn man so möchte, die primäre Funktion, der Schule verschiebt sich ebenfalls mit. Die Schule ist dann kein sozialer Sortierapparat mehr, sondern ein sozialer Entwicklungsapparat.
Further Reading:
- Philippe Wampfler – Wie Noten subjektive Eindrücke objektivieren und weshalb das ein Problem ist
- Wakelet (Ines Bieler) – Why students need more Agency
- Martin Gommel – Warum ist Schulsport so demütigend?
- Stewart Hase & Lisa Marie Blaschke – Unleashing the Power of Learner Agency