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Der letzte Stand der Digitalisierung – Zum Verhältnis von Bildung und Digitalisierung


Was Bildung genau ist, werden wir möglicherweise später klären. Für den Moment geht es mir um die Frage:

Was ist Digitalisierung?

Als tiefgreifendes gesellschaftliches Phänomen fand Digitalisierung zuletzt statt, als MCs zu CDs wurden. Die analoge, magnetisierte Information auf den Tapes der Kassetten wurde digitalisiert und das Digitalisat auf CDs gebrannt. Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass auch heute noch Digitalisierung vorkommt, bspw. wenn alte Dias digitalisiert und das Digitalisat in Jpeg-Dateien abgespeichert wird. Im Großen und Ganzen ist die Digitalisierung jedoch abgeschlossen. Gut, manche Ämter digitalisieren Faxe, bzw. analogisieren aus ihren Dateien ein gedrucktes Papier, dass dann, gewissermaßen als Analogisat, in Nullen und Einsen gefaxt wird. Insgesamt arbeiten selbst die Ämter allerdings inzwischen am Computer auf Basis von Dateien die nicht analog sind.

Als Grundregel könnte es sinnvoll sein, immer dann, wenn von Digitalisierung die Rede ist, zu fragen, wo denn das Digitalisat ist, denn: Ohne Digitalisat keine Digitalisierung. Wäre die Digitalisierung also überall, dann müssten an jeder Ecke Digitalisate auftauchen. Das ist aber nicht der Fall.

Umkehrschluss: Wenn heute die Rede von Digitalisierung ist, dann geht es im eigentlichen Sinn, nicht um Digitalisierung. Es stellt sich die Frage:

Was ist gemeint, wenn von “Digitalisierung” die Rede ist?

Wenn von “Digitalisierung” die Rede ist, dann wird damit häufig eine Vielzahl von Phänomenen beschrieben, von der Computerisierung von Teilbereichen der Gesellschaft, Wlanisierung von Gebäudebereichen, über die Breitbandifizierung des Internets oder die ständige Verfügbarkeit von Wissen, Information und Kommunikation hin zu Kompetenzen mit Phänomenen umzugehen, die ihren Ursprung darin haben, dass sich die Umstände unserer Lebensvollzüge verändern. Was ist mit diesen Umständen gemeint? Einige Beispiele:

  • Ich kann mir ein Ticket kaufen, nachdem der Zug schon losgefahren ist.
  • In Großstädten kann ich mir umstandslos einen E-Roller mieten, um zu einem Ziel zu kommen.
  • Ich kann Menschen zur direkten Mitarbeit an Dokumenten auffordern, egal wo diese sich befinden. Und egal wann diese sich befinden. (Ich bitte darum den holprigen Klang dieser Sprache zu entschuldigen. Sein Ursprung ist, dass wir noch nie einen Bedarf für sie hatten)
  • Ich kann mit Menschen rund um den Globus oder im Dorf Videokonferenzen abhalten, um uns zu organisieren.
  • Ich muss keine Wege mehr kennen.
  • Ich kann von zu Hause aus arbeiten.

Und vieles mehr. Ich habe die Beispiele absichtlich so gewählt, dass die digitale Qualität keine Rolle spielt. Denn diese digitale Qualität ist letztlich nur ein Hintergrundrauschen. Das Level an Technizität des Handlungsvollzugs erhöht sich dadurch, dass die Technik umweghafter wird. Für meinen Lebensvollzug ist es aber völlig irrelevant, ob diese Umweghaftigkeit durch digitale Daten besteht, oder ob ich sie mit meinem American EXPRESS Concierge organisiere, oder ob kleine Männchen mit roten Zipfelmützen, dass im Hintergrund organisieren. Es ist weiterhin so, dass ich:

  • mobil bin und dafür bezahle
  • mit Menschen zusammen arbeite
  • mir Wege zeigen lasse, die ich nicht kenne

Es gibt zwei Kandidaten, die das zu beschreiben versuchen, was gemeint ist, wenn von “Digitalisierung” die Rede ist: Die “digitale Transformation” und die “Kultur der Digitalität” 

“Digitale Transformation” als Kandidat

Der Begriff “Digitale Transformation” leidet m.E. an dem gleichen Problem wie der Begriff “Digitalisierung”. Er beschreibt eigentlich dasselbe Problem, wirkt aber artistischer und verdeckt seine Leere kunstgerechter als “Digitalisierung”. “Transformation” heißt, etwas wird in etwas anderes umgewandelt. Diese Offenheit verschleiert eine Leere, die bislang m.W. von Niemandem gefüllt worden ist. Diese Leere lädt dazu ein, das jede sie beliebig mit ihren Vorstellungen füllen kann, ohne explizit werden zu müssen, was häufig zur Folge hat, dass Diskursteilnehmer*innen denken, sie redeten über dasselbe, in der Tat aber über völlig verschiedene Dinge reden.

“Kultur der Digitalität” als Kandidat

Der Begriff “Kultur der Digitalität” wurde von Felix Stalder in der gleichnamigen Monographie geprägt. Diese “Kultur der Digitalität” zeichnet sich aus durch:

  • Referentialität
  • Gemeinschaftlichkeit und
  • Algorithmizität

Ohne an dieser Stelle ins Detail zu gehen, scheint sie mir der bessere Kandidat zu sein. Denn der Begriff beschreibt die Umgebung der Handlungsvollzüge des Einzelnen. Und die Qualität dieser Umgebung ist eben Digitalität.

Das Adjektiv “digital” als Prämisse der Sinnlosigkeit

In der öffentlichen Diskussion taucht das Adjektiv “digital” in einer ganzen Reihe Ausdrücken auf. Da ist die Rede von “digitalen Tools/Werkzeugen”, von “digitalen Veranstaltungen”, von “digitalem Unterricht”oder gar von “digital gestütztem Unterricht”, oder – meine persönliche Lieblingsformulierung – von “digitalen Kompetenzen”. Diese Redeweise ist irreführend und verhindert, dass die eigentliche Problematik des Gemeinten sichtbar wird. 

Diskutieren wir das am Beispiel “digitales Werkzeug”. Dieser Begriff suggeriert, dass ich in einem analogen Setting ein “digitales Werkzeug” nutzen kann. Der Handlungsvollzug findet aber immer schon im Rahmen der “Kultur der Digitalität” statt. Die Umgebung des Handlungsvollzugs ist die “Kultur der Digitalität”. Denn wir befinden uns in ihr, auch wenn sich einige sträuben, das zur Kenntnis zu nehmen.

Wenn Handlungsvollzüge immer schon im Rahmen der “Kultur der Digitalität” stattfinden, dann wird das Adjektiv „digital“ sinnlos. Denn es eignet sich nur zur Abgrenzung des Analogen. Dieser Dualismus ist aber ebenso sinnlos. Da die Digitalität das, was als analog wahrgenommen wird, umfasst, einrahmt und durchdringt.

Diese Durchdringung tritt immer dann zu Tage, wenn man sich fragt, warum jemand etwas auf herkömmliche Weise getan hat, ohne neue Handlungsoptionen zu Nutzen, die inzwischen etabliert sind. Personaler nehmen beispielsweise inzwischen selten Bewerbungen auf Papier an. Es würde anachronistisch wirken, nutzte heute noch jemand eine Straßenkarte zur Orientierung oder ein Telefonbuch, um eine Telefonnummer nachzuschlagen. 

Konsequenz

Die Nützlichkeit der Begriffe “Digitalisierung” und “digital” in Bildungskontexten ist als nicht gegeben einzuschätzen und wir sollten sie aufgeben. Im besten Fall verschleiern beide Begrifflichkeiten Probleme, die deswegen nicht adäquat behandelt werden, im schlimmsten Fall schaffen sie Probleme, die wir ohne sie nicht hätten. Es bedarf eines begrifflich präzisen Instrumentariums, das häufig durch das Weglassen des Adjektivs “digital” schon entsteht. Eine Software ist ein Werkzeug, Fernunterricht ist Unterricht und Googlen, ist eine Kompetenz. Das was gemeint ist, wenn von “digitaler Bildung” die Rede ist, ist einfach Bildung. Diese findet, wie alles, im Rahmen der “Kultur der Digitalität” statt. Dass die Bildung sich tiefgreifend verändern muss, ist zweifelsfrei, steht aber auf einem anderen Blatt.


Further Reading:

Dieser Text im Podcast:

Zum Verhältnis von Bildung und Digitalisierung © 2022 by Gratian Riter is licensed under CC BY 4.0


3 Antworten zu “Der letzte Stand der Digitalisierung – Zum Verhältnis von Bildung und Digitalisierung”

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